Der Reibwert eines Reifens läßt sich nicht wie im Schulbuch verstehen als Haftreibung oder Gleitreibung. Dazu ist lamelliertes Gummi ein zu spezieller Stoff. Tatsächlich hat jeder mit Drehmoment beaufschlagte Reifen einen "Schlupf", also eine leichte Abweichung zwischen der Abrollgeschwindigkeit des Reifens, woraus sich ja eine Geschwindigkeit errechnen ließe, und der tatsächlichen Geschwindigkeit des Fahrzeugs über Grund - die aber tatsächlich nicht gemessen wird. Gemessen wird nur die Drehzahl am Rad, vorne oder hinten. Die Geschwindigkeit über Grund schätzen Fahrzeuge immer bloß.
Den Zusammenhang zwischen Schlupf und Reibbeiwert µ zeigt folgende Grafik, entnommen aus unten zitierter Arbeit:
Quelle: http://www.windwege.de/Gelfling/publish ... bedarf.jpg
Am einfachsten ist es bei trockenem Asphalt. Das ist die dunkelblaue Linie mit µ = 1. Optimal ist die Reibung - und damit die Bremswirkung bei ca. 10 % Schlupf. Das ABS macht im Grunde nichts anderes, als um diesen Punkt herum zu regeln. Und je feiner das System seine Ventile takten kann - das Ganze geschieht hydraulich mit Solenoid-Ventilen - desto besser trifft es den Punkt.
Ganz rechts im Diagramm, bei 100 % Schlupf, wäre im Prinzip die Gleitreibung, also das blockierende Rad. Für eine Verkürzung des Bremswegs ist somit bei gleichem µ (also auf der selben Kurve) der Unterschied zwischen ganz rechts und dem Reibbeiwert bei optimalem Schlupf die theoretische Obergrenze. Mehr geht da auch nicht für Geld und gute Worte. Tatsächlich ist es weniger - aber das nur am Rande.
Die Kunst eines ABS besteht eigentlich darin, einen Schätzer so zu programmieren, daß er aus Trägheitskräften - die werden von Sensoren gemeldet - den unterschiedlichen Drehzahlinformationen von Vorder- und Hinterrad, sowie aus einer Plausibiliserung der jüngsten Fahr-Vergangenheit, möglichst genau abschätzen kann, wie schnell das Fahrzeug ist und wie der Untergrund beschaffen ist. Ob es also erforderlich ist, zwischen den verschiedenen Kurven hin und her zu wechseln und den Regelpunkt näher oder ferner an 0 % Schlupf zu legen. Und dann um diesen optimalen Punkt herum den Bremsdruck einzuregeln. Ein wirkliches Lösen der Bremse findet dabei aber nicht statt. Und wer die Legende der Grafik zu lesen versteht erkennt schnell, daß es da noch ein paar weitere Zusammenhänge gibt, die man berücksichtigen sollte.
Aber im Prinzip ist es nicht mehr als das. Der Rest ist Knoff-Hoff
Details gibt es hier: Reibwertangepasste Regelstrategien bei Bremsmanövern im Kraftfahrzeug, Dipl.-Ing. Ingo Weber, Dr.-Ing. Alfred Pruckner, BMW AG, München; Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner, Technische Universität Darmstadt